Was außerhalb meines Geistes ist und was ich davon wissen kann

Gedanken über Materie, Geist und Realität

Kay Herrmann





Königshausen & Neumann. Würzburg 2023

ISBN 978-3-8260-7848-4


Zwei mächtige Pole prägen das Spektrum der Denkansätze in der heutigen westlichen Welt: Der gegenwärtig vorherrschende naturwissenschaftliche Materialismus schaltet die persönliche Perspektive aus; einflussreiche Verschwörungsmythen und Ideologien (z. B. Nationalismus, Rassismus oder Kreationismus) umgehen objektive Fakten fast völlig.

 

Das Buch versteht sich als Verteidigung des naturwissenschaftlichen Weltbildes, wendet sich aber zugleich gegen die Subjektvergessenheit der naturwissenschaftlichen Philosophie.


Materie versus Geist, Innenwelt versus Außenwelt, Objektivität versus Subjektivität, Realität versus Konstruktion: Denkmuster, die in der Philosophie zentral verortet sind. Diese Themen durchziehen die Philosophie wie Achsen, um die sich philosophische Debatten drehen.


In der gegenwärtigen philosophischen Landschaft sind zwei unterschiedliche Konzepte maßgebend: Realismus als Inbegriff subjektunabhängiger Ordnung auf der einen, Konstruktivismus als Inbegriff beliebiger Konstruierbarkeit auf der anderen Seite.


Hinzu kommen drängende philosophische Probleme im Spannungsfeld zwischen Mensch und Naturwissenschaft: Die Physik stößt auf abstrakte (eher dem Geistigen zuzuordnende) Strukturen als Bausteine der Materie statt auf ‚handfeste Stoffe‘; Neurowissenschaftler zeigen, dass die Vorstellung von der Außenwelt in der Innenwelt des Gehirns entsteht und Gedankenexperimente wie im Filmklassiker ‚Matrix‘ werfen die Frage nach der Unterscheidung zwischen ‚realer Außenwelt‘ und ‚perfekter Simulation‘ auf.



Geistiges lässt sich aus der Welt nicht eliminieren: Die Natur beruht auf abstrakten (dem Geistigen zuzuordnenden) Strukturen und nicht auf 'handfesten Stoffen'; die Außenwelt entsteht in der Innenwelt des Gehirns.


Besonders hartnäckig ist das Problem der Erlebnisinhalte. Erlebnisinhalte sind z. B. ‚wie sich Schmerz anfühlt‘, ‚wie ich rot empfinde‘ oder ‚wie ich Freude erlebe‘. Bisher ist es nicht gelungen, Erlebnisinhalte auf physikalische Gegenstände und Strukturen zurückzuführen. Denn bei jedem Versuch, Erlebnisinhalte auf physikalische Gegenstände und Strukturen zurückzuführen (sie also zu erklären), verschwindet genau das, was die Erlebnisinhalte ausmacht, nämlich die Perspektive der ersten Person (d. h. der Ich-Bezug).







Unter dem von Edmund Husserl (1859–1938) geprägten Leitmotiv ‚Zurück zu den Sachen selbst‘ greift die philosophische Richtung der Phänomenologie das Thema der Ich-Perspektive auf und betont, dass Wissen seinen Ausgangspunkt in der Ich-Perspektive hat. Wie aber kommt man aus dem ‚Kerker der Subjektivität‘ heraus?









Wie aber kann ich aus der Ich-Perspektive auf etwas schließen, das von mir unabhängig ist? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: Was ist außerhalb meines Geistes und was kann ich darüber wissen?



Meine These lautet: Wissen beginnt mit meiner privaten Perspektive. Am Anfang stehen unmittelbare Erlebnisse: Wie-ich Rot wahrnehme, Ich-bin-es-der-Rot-- wahrnimmt, Wie-ich-Hitze-empfinde, Ich-bin-es-der-gerade-Hitze-spürt oder Wie-sich-für-mich-der-Kerzenkörper-anfühlt. Begriffe wie Atome, Elementarteilchen, Materie oder Geist folgen erst später. Wenn ich von Materie, Geist oder Urstoff spreche, muss ich mir bewusst sein, dass es sich um begriffliche Hilfsmittel handelt.

Chalmers zitiert eine Metapher von Kripke: "Nachdem Gott alle physikalischen Wahrheiten geschaffen hatte, hatte er noch eine Menge Arbeit vor sich, um alle Wahrheiten über das Bewusstsein zu schaffen." Ich behaupte: Weder ist das Bewusstsein aus dem Physischen hervorgegangen, noch sind Bewusstsein und Physisches gemeinsam aus einem Dritten entstanden, vielmehr entsteht das Physische aus dem Bewusstsein. Um ebenfalls mit einer Metapher zu arbeiten, modifiziere ich die oben zitierte Metapher von Kripke folgendermaßen:

 


Nachdem Gott alle Wahrheiten über das Bewusstsein geschaffen hatte, überließ er es dem Menschen, die physikalischen Wahrheiten zu schaffen. Aber er behält die Zügel in der Hand, indem er zu manchen Entwürfen ‚Nein‘ sagt: Unsere Konstruktionen können am Realen scheitern.  










Ein möglicher Zugang zum Realen kann sein, es als unmittelbar erlebbar zu begreifen, zum Beispiel als Widerständiges. Der Hinweis, dass mir das Reale aus der Perspektive meines persönlichen Erlebens zugänglich ist, ist unter anderem ein Verdienst des von der Phänomenologie beeinflussten kritischen Realismus von Nicolai Hartmann (1882-1950). 


 



Wissenschaft liefert Erklärungen. Aber Erklärungen sagen nicht viel über Wahrheit und Realität. Das Reale wird als Widerstand, als Widerfahrnis, aber auch als Stabiles und Robustes erlebt.



Widerstandserfahrungen bieten aber nicht nur physische Gegenstände (wie eine Tür, die sich nicht öffnen lässt), sondern auch natürliche Zusammenhänge (wie die Beziehung zwischen steigendem Druck und zunehmender Tiefe im Ozean).  Aber auch von uns geschaffene und auf uns zurückwirkende Konstruktionen (wie z.B. soziale Verhältnisse) können in ihrer Widerständigkeit als Reales erfahren werden. 


Andererseits wäre z.B. die Konstruktion eines Bauwerkes ohne das Vertrauen in die Realität von Naturgesetzen und Materialien nicht möglich. 


Damit wird die in der modernen Philosophie bestehende Kluft zwischen Realismus und Konstruktivismus aufgehoben.



Realismus und Konstruktivismus sind keine Gegensätze: Konstruiertes kann reale Wirkungen haben, ohne Reales wäre Konstruktion nicht möglich.



Real sind aber auch Gefühle oder Stimmungen. An diesem Punkt treffen sich westliche Philosophie und fernöstliche Weisheit: Ein Aspekt der Lehre Buddhas war der Appell, die Wirklichkeit des Moments zu erleben, statt sich in metaphysischen Spekulationen zu verlieren, auf die es keine Antwort gibt.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort               7

Prolog    10

Erste Achse: Materie ‒ Geist       17

1.           Philosophie des Ostens: Aktiver Geist, passive Materie und allumfassendes Tao  18

a.           Indische Philosophie: Die Bhagavadgita  18

b.           Chinesische Philosophie: Das Tao             20

2.           Antike: Stoff oder Idee?  29

a.           Vorsokratiker  29

b.              Sokrates, Platon und Aristoteles 38

c.               Plotin: Neuplatonismus 45

3.           Mittelalter und Renaissance: Das Universum als Abbild des göttlichen Geistes     39

a.           Von der Antike zum Mittelalter  39

b.           Das Weltbild des Mittelalters      40

c.            Philosophen des Mittelalters, der Übergangszeit und der Renaissance     43

d.           Neuzeit 45

4.           Rationalismus versus Empirismus: Substanzen oder Sinnesdaten?             50

a.           Descartes, Spinoza und Leibniz: Rationalismus            50

              Descartes            51

              Spinoza 53

              Leibniz  55

b.           Locke, Berkeley und Hume: Empirismus         57

              Locke    57

              Berkeley              59

              Hume    66

5.           Mechanischer Materialismus: Der Mensch als Maschine               68

6.           Kant: Der Verstand bestimmt die Dinge  73

7.           Deutscher Idealismus: Materie als Geist 83

a.           Fichte    85

b.           Schelling              87

c.            Hegel     90

8.           Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung            95

9.           Marx und Engels: Geist als Widerspiegelung der Materie              100

10.         Gehirn und Bewusstsein               111

a.           Bergson: Materie und Gedächtnis            111

b.           Die moderne Philosophie des Geistes: Bewusstsein, Selbst und Materie  113

              Thesen zur ersten Achse: Materie als Geist          128

              1. Warum man nicht sagen kann, was Materie ist   128

              2. Warum Geist der Materie vorausgeht     136

Zweite Achse: Außenwelt ‒ Innenwelt    141

1.           Paradoxien des Außenraumes     144

2.           Das Matrix-Argument      150

              Thesen zur zweiten Achse: Außenwelt als Innenwelt        153

Dritte Achse: Objektivität ‒ Subjektivität               156

1.           Immanuel Kant: Metaphysik als Maßstab für Objektivität              159

2.           Leonard Nelson: Die Unmöglichkeit eines Beweises für die Objektivität von Erkenntnis           159

3.           Karl Popper: Objektivität und Falsifikation            160

4.           Jürgen Habermas: Objektivität und Diskurs          163

              Thesen zur dritten Achse: Subjektivität als Voraussetzung für Objektivität             164

Vierte Achse: Reales ‒ Konstruiertes        168

1.           Konstruktivismus              171

2.           Realismus            174

a.           Pragmatisches Realitätskonzept  176

b.           Hypothetischer (konstruktivistischer) Realismus 177

c.             Interner Realismus         178

d.           Direkter Realismus          179

e.           Neuer Realismus              180

f.             Strukturenrealismus        182

3.           Die Phänomenologie und ihre Auswirkungen       183

a.           Zurück zu den Sachen selbst!      183

b.           Realitätsgegebenheit       187

c.             Kritischer Realismus       190

4.           Widerstände als Realitätszeugnisse          194

a.           Moral    197

b.           Soziales 198

c.            Mathematik        200

d.           Naturwissenschaften      202

              Thesen zur vierten Achse: Jenseits des Grabens zwischen Konstruktivismus und Realismus               203

Epilog    208

Glossar  211

Siglen    219

Literatur              220

Internetquellen  229